Blickführung, Blickführung, Blickführung. Oder: Nach schräg kommt flach.

Zehn Fireblades warten auf ihre Fahrer.

Ich bin noch nie einen Supersportler gefahren.

Früh angefangen auf einer BSA Thunderbolt, dann über Triumph Bonneville und Trident, Benelli Quattro und Ducati GTS 860 bis hin zu den aktuellen und meist leihweise gefahrenen Modellen von Triumph, BMW, Moto Guzzi, Ducati oder MV Agusta trotze ich ausnahmslos auf -möglichst mehr als ausreichend motorisierten- Naked Bikes dem heranstürmenden Fahrtwind.

Ich habe auch noch nie ein Renntraining absolviert.

Basis- und Intensivtraining ja, aber stummellenkend hat man mich noch nie auf einem Bike gesehen. Schon gar nicht auf einer Rennstrecke. Bis zu dem Tag, an dem ich das Angebot von Honda annahm, auf einer CBR 1000 RR Fireblade ein Renntraining zu absolvieren.

Es gibt Angebote, die man nicht ablehnen kann, vor allem weil auch der Teilnahmebetrag mehr als ok war. Und eines sonnigen Spätsommermorgens fand ich mich als Supersport-Neuling zusammen mit neun weiteren Bikern am Sachsenring ein.

Bereits bei der Begrüßung durch unsere beiden Instruktoren musste ich feststellen, dass ich nicht nur der Älteste war (der Jüngste zählte mal gerade 19 oder 20 Lenze), sondern dass die Kollegen um mich herum bereits etliche Renntrainings absolviert hatten. Einige brachten sogar mehrfache Sachsenring-Erfahrung mit. Auch bei der Ausrüstung hinkte ich optisch hinterher. Kein einteiliges, buntes Leder, keine Knie- und Ellenbogenschleifer, keine Rennstiefel, keine Rennhandschuhe. Zwar in komplettem Lederdress, der war schließlich vorgeschrieben. Doch vom Integralhelm bis zum Tourenstiefel in freundliches Schwarz gekleidet hob ich mich deutlich von der Farbenfreude eines Freizeit-Rossi, Marquez oder Dovizioso ab.

Aber die Unterschiede zwischen mir und meinen Trainingskollegen beschränkten sich nicht nur aufs Visuelle. Einige hatten sogar mehrere Supersportler sowie nur für den hobbymäßigen Rennstreckeneinsatz vorbereitete Aprilia RSV 4, GXer, S 1000 RRs, Kawas, Panigales, aber auch ältere Fireblades in der heimischen Garage stehen.

Langsam rutschte mein tapferes Bikerherz in die Lederhose. Ich wurde nervös.

Doch zunächst ging’s mit einer umfassenden Technik-Einweisung los, oder besser: mit einer Elektronikschulung. Wie man mit der elektronischen Dämpfereinstellung und den verschiedenen Mappings umgeht, zum Beispiel. Und was das für Gasannahme, ABS, Kurven-ABS, Traktion, Wheelies, Stoppies und Slides (da schmunzelt der Supersport-Novize) bedeutet. Irre, wie sehr manche Bikes rollenden Supercomputern ähneln.

Endlich ging’s ab in die Boxengasse, wo jeder seine Fireblade in Empfang nehmen konnte. Doch noch blieben die Vierzylinder kalt, die Theoriestunde war noch nicht beendet. Zunächst wurde die korrekte Sitzhaltung auf einem Supersportler besprochen, dank des Intensivtrainings im Sommer nicht komplettes Neuland für mich. Wann und warum man leicht in den Rasten steht, den Hintern nicht auf die Sitzbank klebt, sondern in ständiger Bewegungsbereitschaft ist, eine Faustbreit vom Tank entfernt, die Arme angewinkelt und nicht gestreckt sind, die Hände leicht und locker auf den Stummeln liegen. Und immer wieder: Blickführung, Blickführung, Blickführung. Dazu die korrekte Kopfhaltung, die Körperhaltung bei Vollbremsung, stets untermalt mit dem Hinweis: Rennstreckenfahren ist Leistungssport. Also bewegen, bewegen, bewegen.

Und Blickführung, Blickführung, Blickführung.

Nächster Programmpunkt: Maschinengewöhnung. Aus der Boxengasse rollten wir raus auf ein Übungsgelände. Enger und weiter Slalom, Bremsen aus unterschiedlichen Geschwindigkeiten, diverse Ausweichmanöver, Notbremsungen. Beim ersten etwas zu forciert eingeleiteten Stopp stieg mein Hinterrad trotz des halbzivilen Mappings überraschend hoch, und schon winkte mich der Instruktor ran. Ob ich schon mal etwas von progressivem Bremsen gehört hätte? (Hatte ich.) Und ob ich dieses Wissen nicht mal in der Praxis anwenden wollte? (Wollte ich.)


  Anbremspunkte, Einlenkpunkte, Scheitelpunkte, vom Instruktor auf den Punkt gebracht.

Irgendwann gewöhnte ich mich an die gestreckte Haltung und an das erstaunlich agile Handling der Fireblade, vor allem als es auf den schnellen Slalomkurs ging. Auch die Vollbremsungen in tiefer Schräglage klappten überraschend gut. So ein Kurven ABS funktioniert schon erstaunlich perfekt, aber ich tippe, ich käme auch ohne klar.

Das Trainingsprogramm ist intensiv, und langsam spürten wir alle die Anstrengung. Immer wieder wurde kritisiert, dass wir uns auf der Maschine nicht schnell und deutlich genug bewegten. Dazu die zahllosen Anweisungen zur Verbesserung der Fahrtechnik - ich fühlte mich manchmal nicht nur körperlich, sondern auch mental an meiner Grenze. Wie komplex so ein Renntraining sein kann, das hatte ich völlig unterschätzt.

Doch siehe da: Wackelte die Maschine in den ersten schnellen Kurven des Sachsenrings noch wie ein Lämmerschwanz unter mir, weil ich den Lenker zu fest in den Händen hielt, konnte ich das Bike von mal zu mal mit konzentriertem Körpereinsatz lockerer kontrollieren, was vor allem beim darauf folgenden Kennenlernen des Blippers beim Beschleunigen und Bremsen zwischen Kurve 4 (Kleine Kuppe) und Kurve 7 (Große Kuppe) äußerst hilfreich war. Hochsteppen bei vollem Beschleunigen aus einer weiten Kurve, runter mit gleichzeitigem Einbremsen in den engeren Radius. Herrlich. Nachdem wir das einigermaßen flüssig drin hatten, drehten wir hinter den Instruktoren ein paar schnelle Runden über die gesamte Strecke, um die Linie kennenzulernen. Die konnte ich mir zwar nur streckenweise merken, doch der sichtbare Reifenabrieb aus den Motorsport-Wettbewerben gibt einen hilfreichen, dezent-schwarzen Hinweis auf die Ideallinie.

Nachdem der erste seine Maschine weggeworfen hatte, gingen wir nur noch zu Neunt in der Mittagspause. Danach sollten wir uns in zwei Gruppen einteilen: Eine schnelle und eine noch schnellere.

Vielleicht habe ich vom sommerlichen Intensiv-Training profitiert, wo wir mit nur vier schnellen Bikes die gesamte Strecke in Linthe ausschließlich für uns hatten und entsprechend viele Trainingskilometer abspulen konnten. Jedenfalls war meine nicht vorhandene Rennstreckenerfahrung bisher nicht aufgefallen. Zwar habe ich in einem Super 7 in den letzten Jahren viel Rundstreckenerfahrung gesammelt, einschließlich diverser Slalom- und Drifttrainings. Aber so schnell und kurvengierig der leichte Seven auch ist, er bewegt sich auf vier Rädern und ist daher viel leichter zu beherrschen.

Nachdem sich nur drei Biker für die schnellere Gruppe gemeldet hatten, bemerkte ich plötzlich, dass der Super 7 Fahrer in mir ebenfalls den Arm hob. Erstaunlich, wie der mein Zweiradkönnen dermaßen überschätzen kann! Aber auch der Instruktor zuckte nicht, offensichtlich bin ich bis zu dieser Einteilung zwar hochmotiviert und zügig, aber weit unter seinem Radar gefahren. Egal, denn zack, ab ging die Post. Und zack, wurde ich bereits in den ersten beiden Kurven so was von abgehängt. Und das, obwohl ich bis an meine fahrerischen Grenzen ging.

Glücklicherweise sammelte der Instruktor unsere kleine Gruppe an Start und Ziel wieder ein, bevor wieder Vollgas gegeben wurde. Nach jeder Runde wurde die Reihenfolge der Biker gewechselt, so dass ich bei jedem vierten Mal direkt hinter dem Instruktor herbrettern und seine Linie, sein Tempo, seine Bremspunkte und seine Körperhaltung so weit wie möglich kopieren konnte. Trotz fehlender Knieschleifer habe ich mich wohl weiter als andere Kollegen aus dem Bike heraus gehangen, denn diese Bewegungsfreude gab tatsächlich ein lobendes „Daumen hoch“ vom Instruktor. Meine Stiefel zeigten auf den Außensohlen allerdings schnell deutliche Schleifspuren.

Alle zwanzig Minuten legten wir eine Trinkpause ein, in der immer wieder eine andere Kurve ausgewählt und besprochen wurde, so dass ich mit dem Kurs ständig vertrauter wurde. Die Omega-Schleife fand ich besonders trickreich, aber irgendwann hatte ich auch deren ungewöhnliche Linie verstanden.

Wenn man sich ein immer höheres Tempo zutraut, kommt man irgendwann in eine Art Geschwindigkeitsrausch. Ein wunderbares Gefühl, wahrscheinlich nicht nur für mich. Auf einem Naked Bike drückt der Fahrtwind bei zunehmenden Tempo ebenso zunehmend auf die Brust, doch wenn man auf dem Tank einer Fireblade liegt, fehlt plötzlich der gewohnte, stürmische Druck- und Bezugspunkt fürs Tempo. Alles fühlt sich so schnell und leicht an, man fliegt im besten Sinne des Wortes über die Strecke.

Was ebenfalls neu für mich war, dass ich kein Gefühl für die Grenzen der Schräglage entwickeln konnte. Die R 1200 R, die ich beim Intensiv-Training um den Kurs gescheucht habe, signalisierte mit ebenso früh wie deutlich aufsetzenden Rasten, dass es jetzt nicht mehr viel weiter runter geht. Die Fireblade ballert einfach gierig und in für mich spektakulärer Schräglage um die Kurve rum, und fertig.

Manche Radien haben mir sofort gelegen, bei anderen (sprich: Omega-Schleife) ist mir regelmäßig der Schweiß ausgebrochen. Doch durch die ständigen Korrekturen des Instruktors und die regelmäßigen Vordermann-Wechsel fühlte ich mich in der kleinen Gruppe trotz des zunehmenden Tempos immer sicherer. So lange, bis meinem Vordermann in der Volkswagenkurve die Fireblade spektakulär übers Vorderrad rutschte und Bike und Biker sich im Kiesbett wiederfanden. Das war für mich dann doch ein erstes dezentes Aha-Erlebnis, dass auch ich ziemlich nah an meiner fahrerischen Grenze angekommen sein musste. Im Gegensatz zu seiner Fireblade war dem jungen Fahrer zwar nicht viel passiert, aber sein Sturz war doch ernüchternd für uns. Wie hieß es damals auf den T-Shirts in Linthe so schön: Nach schräg kommt flach.

Dann waren es nur noch acht, davon nur drei in unserer Gruppe. Weil erst um 19:00 Uhr Programmschluss war, durften wir noch ein paar weitere Runden abspulen. Unser Instruktor nahm das Tempo vorsichtshalber leicht zurück, aber konzentrierte sich dafür stärker auf die Korrektur von Fahrtechnik und Haltung, was mir sehr entgegen kam. Denn um ehrlich zu sein, zum Ende dieses kraftraubenden Trainingstags verabschiedeten sich bei mir langsam Kondition und Konzentration.  

Irgendwann war Schluss mit Schnell, und wir wurden in die Boxengasse gewunken. Nach dem Abstellen der heiß vor sich hin knisternden Maschinen, dem herzlichen Verabschieden und dem ebenso herzlichen Dank an unsere hervorragenden Instruktoren ging es -wie sollte es anders sein- unverzüglich in einen nahegelegen Biergarten. Ich musste einfach das großzügig eingespritzte Adrenalin abbauen, das noch immer wild durch meine Blutbahn kreiste - die offensichtlich bereits die Form des Sachsenrings angenommen hatte. 

Was bleibt nach so einem Erlebnis?

Zugegeben, ich kann nicht mal ansatzweise einschätzen, wie gut, sicher und schnell ich auf der Strecke unterwegs war. Aber ich weiß, dass ich an diesem Tag eine Menge gelernt habe. Vielleicht sogar mehr als je zuvor. Und dass dabei ein seltsamer Virus von mir Besitz ergriffen hat. Der mir unmissverständlich klar macht, dass dies nicht mein letztes Training auf einer Rennstrecke gewesen ist. Oder auf einem Supersportler.

Noch Monate später habe ich das Glücksgefühl nicht vergessen, wenn plötzlich die Koordination zum ersten Mal relativ sauber gelingt. Wenn man direkt hinter dem Instruktor in eine langgezogene Links schießt, den richtigen Lenkimpuls setzt, den Körper korrekt in die Innenbahn eindreht, mit Druck auf den rechten Fuß das Bike stabilisiert und dann weit neben dem Bike hängend die Linie sauber trifft, um schließlich aus dem Apex heraus konstant zu beschleunigen, immer schön das Kurvenende im Blick behaltend. Wobei das eigentlich alles viel zu schnell geht, weil man schon wieder aufs nächste Eck zufliegt. Doch wenn es fast perfekt gelingt, ist es einfach ein irres Erlebnis.

Ein Erlebnis, dass ich im kommenden Jahr mit Sicherheit wiederholen werde. Öfter wiederholen werde. Vielleicht sogar mit Knieschleifern.

Denn das Motorradleben ist ein einziges langes Motorradlernen.

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