Zen oder: Autobahnfahren als humanistische Bewegung.


(Foto: Daniela Haug)

Wir sind auf dem Weg zu einem Termin. Freund J. sitzt am Steuer, es ist sein Auto, ein komfortabler Reisewagen, mit dem sich die knapp 300 Autobahnkilometer entspannt zurücklegen lassen.

Wenn man so etwas kann: Entspannt Autobahnfahren.

J. kann es, und dafür bewundere ich ihn. Schon seine Sitzhaltung: Aufrecht, aber vollkommen entspannt, liegen seine Hände scheinbar spielerisch auf dem Lenkrad, während sein Blick konzentriert im Verkehrsgeschehen ruht. Und wenn wir auch auf dieser Fahrt der liebgewonnen Tradition einer gepflegten Konversation huldigen, so bleiben fahrerische Erfahrung und Handeln doch konsequent im gegenwärtigen Augenblick verhaftet.

Wir nähern uns einem deutlich langsameren Fahrzeug, dessen Steuermann trotz des niedrigen Tempos sein Heil auf der mittleren Spur sucht (wo er es, wie die Erfahrung sagt, nicht finden wird). J.’s Blick wandert in den Rückspiegel, ein weiteres Auto nähert sich auf der linken Spur, ist aber noch weit entfernt. J.’s Kopf dreht sich leicht, die Augen tasten den toten Winkel ab. Erst jetzt setzt seine Hand den Blinker, der Wagen kreuzt lässig und in spitzem Winkel über die mittlere Spur nach links. Während dessen hat J. sein Kraftfahrzeug vorausschauend und spürbar beschleunigt, um dem von hinten herannahenden Mit-Automobilisten ein unnötiges Bremsmanöver zu ersparen.

Wir passieren den unruhigen Geist des Mittelspurfahrers. Un-Entspanntheit in Gesicht und Körperhaltung geschrieben, scheint sein starrer Blick in eine unerfreuliche Zukunft gerichtet. Mittelspur, Mittelmaß, Mittelklasse: Die permanente Beschäftigung mit sich selbst mündet nicht selten in der Projektion der eigenen inneren Probleme nach außen und verursacht Mittelspurkilometer um Mittelspurkilometer spürbar neues Leid. Welche Ausfahrt ihm wohl die Erlösung versprechen kann, nach der er sich so sehnt?

Blinker rechts, ein Wechsel auf die rechte Spur, ohne das rollende Hindernis belehrend zu schneiden, dann nimmt J. etwas Gas raus und das gewohnte Reisetempo wieder ein. Unbehindert zieht ein TDI auf der Überholspur vorbei. Es scheint, als hätte J. den Mittelspurfahrer nicht als Hindernis wahrgenommen. Doch weil er seine Aktivität auf die Erfahrung und das Handeln im Hier und Jetzt ausrichtet und daher den Akt des Fahrens in völliger Konzentration und mit der gebotenen Achtsamkeit für den Mitmenschen auf der anderen Spur ausübt, nimmt J. auch einen Mittelspurfahrer durchaus als menschlichen Verkehrsteilnehmer wahr. Was ihn von mir unterscheidet: Er vermeidet dabei erfolgreich, in die gewohnte Dualität des Gut-Böse-Denkens mit ihren unerfreulichen, Adrenalin-fördernden Auswüchsen zu verfallen.

Seine eigene Person nicht als das Zentrum des Universums zu betrachten und alle Ereignisse nicht ständig von seinem eigenen Standpunkt und seiner eigenen Perspektive aus zu bewerten, erfordert jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Übung. Und kaum etwas scheint als Übungsraum besser geeignet als die heimische Autobahn, wo nichts einfacher und zugleich schwieriger ist als die Bereitschaft zur Aufgabe seines selbstbezogenen Denkens und Handelns.

Dahinter verbirgt sich natürlich die tiefe innere Überzeugung, dass man anderen Verkehrsteilnehmern nur dann in sorgender Liebe und Solidarität begegnen kann, wenn man sich selbst von den Fesseln des Egoismus befreit hat. Im Zen sagt man, dass alles im Kosmos miteinander in Verbindung steht. Was wiederum bedeutet, dass keine real existierende absolute Grenze zwischen dem einzelnen Inidividuum und allen anderen Menschen besteht. Der Schluss, dass jede schädigende, aber auch jede fürsorglich Handlung auf den Verursachenden zurückfällt, liegt auf der Hand.

Ich übe, in dem ich lerne. J. bremst äußerst vorausschauend, meist nimmt er nur das Tempo heraus und passt genau den Moment ab, in dem der Wagen vor ihm die Überholspur wieder frei gibt. Er antizpiert Spurwechsel und lässt diese selbst dann freimütig geschehen, wenn ich sie als „schneiden“ bezeichnen würde, er fährt nicht dicht auf, er meidet die Lichthupe. Gefahrensituationen tauchen nur für mich völlig unerwartet auf; J. sieht sie voraus, entscheidet geistesgegenwärtig und meistert sie, bevor ich sie als solche erkannt habe. Ich frage mich: War ich dann überhaupt noch in einer Gefahrensituation?

Von der scheinbaren Entspannheit, ja Versunkenheit hinter dem Steuer darf man sich nicht täuschen lassen. Fern jeder Hektik sind wir unauffällig schnell, sogar sehr schnell unterwegs. Als Beifahrer beschleicht einen unweigerlich das Gefühl, dass man in seiner eigenen Raumzeit, von allen negativen Einflüssen des Verkehrsgeschehens unberührt, über die Autobahn gleite. Entspannte automobile Fortbewegung im Auge eines Orkans, mystische Erfahrung der Erleuchtung und des Erlebens universeller Einheit.

Am Fahrtziel angekommen, frage ich den Meister, ob er einen Schüler akzeptieren würde. Nur so, rein theoretisch, ich hätte dabei keine bestimmte Person im Hinterkopf. J. murmelt etwas von der mir eigenen, versteckten Grundaggression, die einer Erfahrung als sozial praktizierender Verkehrsteilnehmer entgegen stünde, und dass er mir als Meister auf diesem dornenreichen Weg nichts bieten könne, was mir von Hilfe wäre: keine Lehre, kein Geheimnis, keine Antworten.

Was mich aber nicht davon abhalten darf, dem Ideal eines humanistisch geprägten Autobahnfahrers zu folgen. Niemand sollte sich davon abhalten lassen.

Die große Weisheit, sagt der Zen-Praktiker, muss nicht gesucht zu werden, sie ist immer schon da. Man muss sie nur finden.

Auf der Rückfahrt werde ich J. bitten, mir das Steuer zu überlassen. Ich werde sofort mit der Suche anfangen.

Sollten Sie also irgendwann, in vielen, vielen Jahren, versehentlich über die Mittelspur schleichen, dann ohne den Blinker zu setzen auf die linke Spur wechseln und ein ruhig dahin gleitendes Fahrzeug zu einem unnötigen Bremsmanöver zwingen wollen: Richten Sie bitte, wenn sie irgendwann die linke Spur zugunsten der mittleren wieder frei gegeben haben, Ihren Blick auf den Fahrer dieses Wagens. Der, der da weise lächelnd am Steuer des Hier und Jetzt sitzt und dabei völlig entspannt seinen Weg als humanistisches Ziel verfolgt: das bin ich.

Bis dahin ignorieren Sie bitte meine Lichthupe.

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